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Titel
Karl Radek (1885–1939). Biographie politique.


Autor(en)
Fayet, Jean-François
Erschienen
Bern 2004: Peter Lang/Bern
Anzahl Seiten
813 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Peter Huber, Historisches Seminar, Uni Basel

Der politische Weg des 1885 in Lemberg (Österreich-Ungarn, heute Ukraine) geborenen Karl Bernardowitsch Radek war bisher noch nie Gegenstand einer wissenschaftlichen Studie. In der Sowjetunion und in den Volksrepubliken galt er bis zur Rehabilitation unter Gorbatschow als «Unperson», und im Westen geriet er nach seiner Verhaftung 1936 in Vergessenheit, zumal Radek – weder zu Lebzeiten noch Jahrzehnte später in den Jahren der Studentenrevolten – eigene politische Parteigänger hervorbracht hatte, wie dies mit den «Trotzkisten», «Bucharinisten» und «Sinowjewisten» der Fall war. Die mehrfach gebrochene politische Laufbahn dieses «enfant terrible» der Sozialistischen Internationale, das seit der Oktoberrevolution zwischen Berlin und Moskau zu einem eminenten Propagandisten der Weltrevolution avancierte und 1939 im Gulag von einem Mithäftling erschlagen wurde, wird nun vom Genfer Historiker in einer Dissertation aufgearbeitet.

Das in Moskau neu zugängliche Quellenmaterial ist äusserst zersplittert und getreues Abbild des unsteten, vor allem in der Sowjetunion von Parteiausschlüssen, Verhaftungen, politischen Kapitulationen und Wiederaufnahmen in den Schoss der Partei geprägten Lebensweges. Der Autor selbst bringt es auf den Punkt: es gibt kein Dossier «Radek» in Moskau, wohl aber eine Vielzahl von Beständen, in denen Lebensabschnitte Radeks Spuren hinterlassen haben. Am besten dokumentiert sind die Jahre bis 1928 (erste Deportation nach Sibirien), während für die Jahre nach seiner politischen Kapitulation (1930) und bis zur zweiten Verhaftung (1936) nur kleinere Aktenbestände dem Forscher zugänglich sind. Fayet vermutet, dass gewichtige Bestände zu Radek im Archiv des Politbüros (auch Präsidialarchive genannt) und in jenem der Staatssicherheit (FSB) hinterlegt sind – zwei Archive, die «normalen» Forschern verschlossen sind.

Radeks stürmische Laufbahn begann um die Jahrhundertwende in der polnischen Sozialdemokratie. Der Sohn einer assimilierten jüdischen Familie entpuppte sich schnell als polyglotter Propagandist mit einer scharfen Feder, der frech und skrupellos Kontroversen mit Führern der europäischen Sozialdemokratie entfachte – so etwa 1911 mit Karl Kautsky zur Frage des Imperialismus. Als ihn 1912 die polnische und die deutsche Sozialdemokratie aus ihren Reihen ausschlossen, machten sie ihn ungewollt zum Märtyrer der radikalen Linken und verliehen ihm – vor allem seit 1914 – den Nimbus eines unentwegten Kriegsgegners. Um der Wehrpflicht zu entgehen, floh er in die Schweiz und wurde hier zu einem politischen Kristallisationspunkt einer bunt zusammengewürfelten Heerschar vaterlandsloser Exilanten und Schweizer Sozialdemokraten. Fayet unterstreicht zu Recht die oft verkannte eminente Rolle, die Radek bei der Formierung der Zimmerwalder Bewegung einnahm; die sowjetische wie auch die westliche Geschichtsschreibung haben lange die Wichtigkeit Lenins im politischen Prozess «aufgeblasen » und Radek zu einem einfachen Fürsprecher des russischen Revolutionsführers degradiert.

Eines der interessantesten Kapitel ist wohl der Teil, den der Autor mit «Revolutionär, Diplomat und Intrigant» überschreibt, und der grob die Jahre 1919 bis 1923 umfasst. Radek spielte dank seines ausgeprägten Beziehungsgeflechts auf verschiedensten politischen Schachbrettern zwischen Moskau und Berlin; ohne institutionell genau abgesichert zu sein, bewegte er sich kühn und wie ein politischer Seiltänzer an der Schnittstelle zwischen internationaler kommunistischer Bewegung (Komintern) und sowjetischer Aussenpolitik. Obwohl er formell weder dem Leitungskader der Komintern noch jenem des sowjetischen Aussenministeriums angehörte, war er auf beiden Ebenen präsent und eine Autorität. Er galt als Mentor der deutschen KP und gleichzeitig halboffizieller sowjetischer Diplomat bei deutschen Führern aus Politik und Wirtschaft, mit denen er den Vertrag von Rapallo vorbereitete. Und Fayet vergisst nicht, auf eine der Schwachstellen dieser aussergwöhnlichen Position hinzuweisen, indem er einen deutschen Parteiführer mit den Worten zitiert: «Radek galt in Moskau als Deutscher und bei uns als Russe. Er erhielt Schläge von beiden.»

Dass im innerrussischen Parteikampf der Jahre 1923–1927 Radek Trotzky nahestand, dürfte kaum überraschen. 1927 ereilte den «troubadour de la révolution» der Parteiausschluss, gefolgt von einer zweijährigen Verbannung nach Sibirien, wo er – zur Überraschung vieler Parteioppositioneller – ein politisches Reuebekenntnis ablegte und Ende 1929 wieder in den Serail der Partei aufgenommen wurde.

Das letzte Kapitel mit der Überschrift «Dans les abîmes du stalinisme» widmet Fayet den Jahren 1930–1936, als Radek zum persönlichen aussenpolitischen Berater Stalins aufrückte. Diese aussergewöhnliche und von den meisten Zeitgenossen als sensationell empfundene Mutation des ehemaligen Internationalisten, der nun in «Iswestija» Stalins nationale Wende in der Aussen- und Kulturpolitik untermauerte und mit dem Marxismus in Einklang brachte, darf als Kernstück der Arbeit bezeichnet werden. Fayet konnte dazu erstmals Teile des Briefverkehrs Stalin–Radek auswerten (ungefähr 600 Seiten) und kommt zum Schluss, dass Radek ab 1932 in direktem Auftrag von Stalin die Hinwendung zum Völkerbund und die «Politik der kollektiven Sicherheit» argumentativ absicherte. Radek durfte im Auftrage Stalins (und als Iswestija-Korrespondent getarnt) Reisen nach Warschau, Berlin und Genf unternehmen, wo er seine alten Beziehungsnetze spielen liess und wirtschaftliche, politische und diplomatische Kreise sondierte. Stalin gab Radek gar eine institutionelle Absicherung und stellte ihn 1932 an die Spitze eines neugeschaffenen Büros («Büro für internationale Fragen»), das direkt dem Generalsekretär unterstellt war. Fayet unterstreicht die wiedergefundene Stellung Radeks im Zentrum der Macht, mit direktem Zugang zum Diktator, von dem er regelmässig zu langen Gesprächen aussenpolitischen Inhalts empfangen wurde. Doch Fayet nuanciert gleichzeitig die tatsächliche Macht Radeks («une plume servile») im Führungszirkel und verweist auf die fehlende Entscheidungsautonomie, ein Merkmal, das dem stalinschen Machtgefüge anhaftete.

Das in sieben Kapitel gegliederte Werk endet mit dem erneuten und endgültigen Sturz Radeks, der es wie kein zweiter Parteioppositioneller der Jahre 1924–1928 verstanden hatte, nach politischer Kapitulation und öffentlicher Abschwörung aus der politischen Verbannung in Sibirien (1928–1930) nach Moskau heimzukehren und in der Nähe der Macht eine seiner Stärken – die Kenntnis des europäischen Machtgefüges – in die Waagschale zu werfen. Falls er sich eine Überlebensstrategie zurechtlegte, so war es es jene, Stalin nützlich zu sein und ihm seine Ergebenheit und Unentbehrlichkeit in aussenpolitischen Fragen zu beweisen. Der Preis für diese unsichere, aber mit materiellen Privilegien ausgestattete Existenz (geräumige Wohnung, Reisen ins Ausland, Datscha) war ein rasanter moralischer Zerfall, der sich unter anderem ab Mitte der Dreissigerjahre in einem ungehemmten Alkoholkonsum äusserte. Für die Monate vor seiner Verhaftung im September 1936 zeichnet der Autor das Bild eines ehemaligen Revolutionärs, der sich bis zur Unkenntlichkeit gewandelt und sich an einen letzten Strohhalm klammerte: «Radek était devenu un homme anxieux, parfaitement conscient de la précarité de sa situation, même s’il conservait l’espoir d’être suffisamment utile à Staline pour pouvoir traverser la tourmente.»

Die nun vorliegende politische Biografie Radeks besticht durch die profunde Kenntnis der politischen Lebensräume, die Radek von Ende des 19. Jahrhunderts in der internationalen Sozialdemokratie bis zu seinem Tod im Gulag durchlaufen hat. Die Stärke der Studie liegt auch in der Kraft der Interpretation des politischen Handelns einer Generation von Revolutionären aus der alten Sozialdemokratie, die nach neuen Ufern aufgebrochen sind und Schiffbruch erlitten haben. Im Falle von Radek paart sich dieses Scheitern mit einer skrupellosen Anbiederung an die siegreiche Generallinie, die selbst ihre eifrigsten Verteidiger verschlungen hat.

Zitierweise:
Peter Huber: Rezension zu: Jean-François Fayet: Karl Radek (1885–1939). Biographie politique. Bern, Peter Lang, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 499-501.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 499-501.

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